Europäischer Kammermusikwettbewerb Karlsruhe »Wolfgang Meyer«
Prof. Dr. h.c. Wolfgang Rihm
Meine Damen und Herren,
es ist mir natürlich eine große Freude und Ehre, hier im eigenen Haus sozusagen, Sie begrüßen zu dürfen.
Was macht ein Schirmherr? Er hält Unbill ab. Zur Ausübung dieser Funktion ist es ja Gott sei Dank nicht gekommen, denn es lief alles wunderbar. Vielleicht kann ich nachträglich ein kleines Gedankengespinst über das Ganze ausbreiten, möge das der Schirm sein.
Kammermusik – „Kammer“ ist zunächst einmal ein etwas befremdlicher Begriff, er deutet Enge an, er deutet an, dass hier etwas in einer Abgeschlossenheit geschieht, er deutet an, dass nichts nach außen dringt. „Kammer“ deutet aber auch an, dass etwas in einem wirklich umfriedeten, nicht nach außen hin geöffneten Raum geschieht. Das sollte man bedenken, wenn man zum Beispiel in Riesensälen mit 2500 Leuten plötzlich einem Streichquartett zuhören muss. Da habe ich immer das Gefühl, es stimmt etwas nicht, denn Kammermusik ist etwas, das von wenigen für wenige gemacht wird, was aus einer intimen Situation in eine zweite Intimität hineinspricht, nämlich zu den rings um die Spieler Versammelten. Kammermusik ist intimes Geschehen. Und Kammermusik ist für mich – und ich glaube nicht nur für mich – der Extremfall von Musik, das heißt, es ist die Form von Musik, wo es auch sozial wirklich ernst wird, wo Ernstfall herrscht. Ein Solist agiert beispielsweise in eigenem Auftrag, er muss nicht Rücksicht nehmen auf das, was um ihn geschieht, er muss auf keine andere Stimme reagieren. Der im großen Ensemble, im Orchester spielende Musiker ist aufgehoben, geschützt in seinem Tutti. Aber der Kammermusiker ist im schönsten künstlerischen Sinne nackt und bezogen zugleich. Und zwar so, dass er aus dieser Unschuld heraus, aus dieser Nacktheit heraus Substanzielles zu einem größeren Zusammenhang beiträgt. Die Kammermusik hat das Zeichen von Musik im umfassendsten Sinne: als Weitergabe von Energie an den Nächsten und energetische Aktion des Einzelnen zugleich. Der Kammermusiker agiert ungeschützt und gleichzeitig bezogen – er ist nicht Solist und nicht im großen Ensemble eingebettet: Sein Tun ist gleichzeitig offen gelassen und eingebunden. Das erfordert eine extreme Form des Agierens, es setzt eine ganz bedeutende Wachheit voraus. Und deswegen ist Kammermusik – und da spreche ich als Komponist – auch die durchgearbeitste und die am filigransten gestaltete Musik, die möglich ist. Kammermusik ist eine sehr europäische, sehr abendländische Form; es ist eine Form, die das Soziale im Intimen abbildet. Es ist keine Ansprache an eine große Öffentlichkeit, aber beinhaltet die tiefsten und, wie ich finde, ausstrahlendsten Gedanken, die jene Musik, die ich jetzt mal die abendländische nennen möchte, auszusprechen in der Lage war und ist.
Nun bin ich schon am Ende, ich danke Ihnen und jetzt hören wir den jungen Leuten zu.
© Wolfgang Rihm